Produktives Lernen in Sachsen – Schule trifft Berufsalltag

Cover des blogartikel zu Produktives Lernen mit einem Mädchen an einer Maschine

Produktives Lernen verbindet Schule mit echter Lebenspraxis: Zwei Tage in der Woche arbeiten die Jugendlichen in einem Betrieb, die übrigen drei Tage verbringen sie in der Schule. Das Ziel: mehr Motivation, mehr Relevanz, mehr echte Erfahrungen. Dieses besondere Lernkonzept richtet sich an Schüler*innen, die im klassischen Unterricht oft nicht ihr Potenzial zeigen können. In diesem Beitrag erklären wir, wie Produktives Lernen funktioniert, wer davon profitiert und welche Unterrichtsmaterialien für Produktives Lernen Lehrkräfte konkret im Alltag unterstützen.

Das Wichtigste in Kürze

  • Zielgruppe: Schüler*innen, die im Regelschulsystem Schwierigkeiten haben, werden durch Praxisbezug neu motiviert.
  • Struktur: Zwei Tage pro Woche arbeiten die Lernenden in Betrieben, drei Tage sind sie in der Schule, begleitet durch gezielte Reflexion.
  • Vorteil für Lehrkräfte: Kleine Lerngruppen, individuelle Förderung und konkrete Lebensnähe machen Unterricht wirksamer und greifbarer.
  • Herausforderung: Es braucht Zeit für Organisation und intensive Begleitung, aber das Ergebnis lohnt sich: mehr Abschlusschancen, mehr Selbstvertrauen.
  • Passende Materialien helfen, Lernprozesse zu strukturieren und Praxisphasen pädagogisch zu begleiten.

Ein persönlicher Impuls: Lernen zwischen Schule und Praxis

Ich erinnere mich noch gut an eine Busfahrt während einer Wintersportwoche: Wir fuhren gerade zurück von der Piste ins Hotel, als wir ins Gespräch mit einer Schülerin einer berufsbildenden höheren Schule in Österreich kamen, genauer gesagt einer höheren Lehranstalt für Tourismus. Sie erzählte mit Begeisterung von ihrer Ausbildung, die einen ständigen Wechsel zwischen Schule und Praktika vorsieht. 24 Wochen pro Schuljahr verbringen die Lernenden in Betrieben, vom Hotel über Reisebüros bis zur Gastronomie, um Einblicke in die unterschiedlichsten Bereiche der Branche zu gewinnen.

Was uns damals besonders beeindruckte: Diese Ausbildung öffnet viele Türen, ob direkt in den Beruf, in die Selbstständigkeit oder sogar an die Universität. Das war Lernen mit echtem Praxisbezug, deas sich an den Interessen und Zielen der Jugendlichen orientiert. Das war für uns ein faszinierendes Konzept, das uns noch lange im Gedächtnis blieb.

Produktives Lernen bietet Jugendlichen neue Perspektiven

Als ich später vom Konzept Produktives Lernen in Sachsen hörte, fühlte ich mich sofort an dieses Gespräch erinnert. Auch hier steht der Wechsel zwischen schulischem Lernen und praktischer Erfahrung im Mittelpunkt, allerdings mit einem anderen Fokus: Statt beruflicher Spezialisierung geht es darum, Jugendlichen mit Förderbedarf eine realistische Perspektive auf einen Schulabschluss zu eröffnen. Durch gezielte Begleitung, kleine Lerngruppen und die aktive Einbindung in den Berufsalltag erhalten sie die Chance, ihre Stärken zu entdecken und Selbstvertrauen zu entwickeln. Dieser individuelle Weg kann Türen öffnen, nicht nur zu einem der Hauptschule ähnlichem Abschluss, sondern auch zu einem festen Ausbildungsplatz oder einem langfristigen Job. Genau darin liegt die Stärke dieses besonderen Bildungsweges: Er fördert, wo Unterstützung gebraucht wird und schafft neue Möglichkeiten, wo andere Wege versperrt scheinen.

Ursprung, Kritik & aktuelle Verbreitung des Konzepts

Das Konzept ist nicht neu, bereits in der DDR gab es das Fach Produktives Lernen. Rückblickend steht und stand es stets in der Kritik, weil es weder genug Betriebe gab, noch pädagogisch geschultes Personal, welches in der Lage war, die Schüler*innen bei ihrem Lernprozess zu begleiten. Doch wie funktioniert Produktives Lernen genau? Und welche Chancen, aber auch Herausforderungen bringt dieser Weg mit sich?

Individuell. Praxisnah. Erfolgreich.

Mit dem zweijährigen Bildungsangebot Produktives Lernen geht nicht nur der Freistaat Sachsen neue Wege, um Jugendliche auf dem Weg zum Hauptschulabschluss gezielt zu fördern. Die Länder Sachen-Anhalt, Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern, Berlin, Brandenburg und Schleswig Holstein haben ähnliche Angebote. Doch was genau steckt hinter diesem besonderen Konzept und für wen ist es gedacht?

Produktives Lernen: So funktioniert das Konzept

„Produktives Lernen“ ist ein alternatives Schulkonzept für Schüler*innen der 8. und 9. Klassen an sächsischen Oberschulen. Es richtet sich an Jugendliche, die besondere Unterstützung benötigen, um einen dem Hauptschulabschluss gleichgestellten Abschluss zu erreichen. Der Unterricht ist dabei in drei Trisemester gegliedert und kombiniert schulisches Lernen mit praktischen Erfahrungen außerhalb des Klassenzimmers. Im Zentrum steht die Verbindung von:

  • Lernen in der Praxis (z. B. in Betrieben, sozialen oder kulturellen Einrichtungen)
  • fachbezogenem Lernen an der Schule
  • Kommunikationsgruppen, in denen Austausch und Reflexion gefördert werden

Die Jugendlichen wählen ihre Praxisplätze eigenständig aus, auf Grundlage ihrer Interessen und Kompetenzen. Begleitet werden sie von zwei Lehrkräften und einer Mentor*in im Praxisbetrieb. Grundlage für den Lernprozess ist ein individuell abgestimmter Lehrplan (Curriculum).

Ziel des Produktiven Lernens

Das Hauptziel ist ein erfolgreicher Schulabschluss mit klarer beruflicher Perspektive. Das Programm soll die Zahl der Schulabgänge ohne Abschluss senken und den Einstieg in eine Berufsausbildung erleichtern. Gleichzeitig stärkt das „Produktive Lernen“ wichtige Schlüsselkompetenzen wie Selbstständigkeit, Verantwortungsbewusstsein und Ausdauer.

Für wen eignet sich das Angebot?

Zielgruppe sind Jugendliche der Klassenstufen 8 und 9 an Oberschulen, die:

  • besondere Unterstützung beim Lernen benötigen,
  • sich in kleineren Gruppen wohler fühlen,
  • einen praxisnahen Zugang zur Bildung suchen,
  • noch keine konkrete berufliche Perspektive haben.

Aufnahmeverfahren: So kommt man ins Programm

Die Teilnahme am »Produktiven Lernen« ist freiwillig. Das Aufnahmeverfahren umfasst:

  1. Informationsveranstaltung für Jugendliche und Eltern
  2. schriftliche Bewerbung
  3. persönliches Gespräch
  4. sechswöchige Orientierungsphase

Nach dieser Phase entscheidet die aufnehmende Schule gemeinsam mit den Lehrkräften über die endgültige Aufnahme. Bei einer Nichtaufnahme werden gemeinsam alternative Wege gesucht.

Welche Erfolge zeigt das Produktive Lernen?

Zwischen 2009 und 2013 hat ein Forschungsteam um Prof. Thomas Häcker von der Universität Rostock das Produktive Lernen in Sachsen im Rahmen einer externen Evaluation untersucht. Die Ergebnisse wurden 2013 unter dem Titel „Externe Evaluation des Modellprojektes – Produktives Lernen an Mittelschulen in Sachsen“ veröffentlicht. Die Evaluationsergebnisse verdeutlichen, in welchen Bereichen das Produktive Lernen besonders wirksam ist und welche Entwicklungen bei Schülerinnen und Schülern, Lehrkräften sowie Praxispartnern beobachtet werden konnten:

Schulabschluss und Motivation

Die Mehrheit der Schüler*innen im Produktiven Lernen erreicht einen Hauptschulabschluss oder qualifizierten Hauptschulabschluss. Viele streben eine schulische oder berufliche Weiterbildung an. Das PL wirkt also abschlussfördernd und zukunftsorientiert.

Sicht der Lehrkräfte

PL-Lehrkräfte beobachten eine deutliche Entwicklung der Selbstkompetenz (Selbstreflexion, Präsentationsfähigkeit, Eigenverantwortung). Trotz hoher Anforderungen fühlen sie sich weniger überfordert als im Regelschulbetrieb.

Selbstkonzept und Lernerfolg

Das schulische Fähigkeitsselbstkonzept verbessert sich deutlich:

  • höhere Selbsteinschätzung der eigenen Fähigkeiten
  • mehr Zutrauen in die eigene Leistungsfähigkeit
  • größere Lernbereitschaft und Zielstrebigkeit

Gesamtnutzen aus Sicht der Jugendlichen

  • hohe Zufriedenheit mit Klassenklima, Lernmethoden, Unterstützung durch Lehrkräfte
  • Vorteile: Persönlichkeitsentwicklung, Leistungssteigerung, Erreichen des Schulabschlusses
  • Nachteile: Fächerreduktion, geringer Anteil schulischen Lernens, kein Realschulabschluss möglich

Persönliche Entwicklung

Die Jugendlichen berichten von positiven Veränderungen:

  • mehr Selbstbewusstsein, Selbstständigkeit und Durchhaltevermögen
  • stärkere Anstrengungsbereitschaft, Offenheit und Hilfsbereitschaft
  • Verbesserungen in Deutsch, Mathematik, Englisch und Präsentation

Bedeutung der Praxisorte

  • Die Praxisorte erfüllen laut Mentor*innen überwiegend die Anforderungen.
  • Die Zusammenarbeit erfordert Flexibilität und ist zentral für den Erfolg.
  • Arbeitgeber*innen loben berufliche Reife, Zuverlässigkeit, Motivation und Sozialverhalten – sehen aber auch Schwächen bei Auffassungsgabe und Eigeninitiative.

Sozial- und Methodenkompetenz

PL-Schülerinnen und -Schüler zeigen Fortschritte in:

  • Informationsbeschaffung
  • Selbstorganisation
  • Teamarbeit

Ursachen: individuelle Förderung, gutes Klassenklima und enge Begleitung durch PL-Pädagog*innen

Viele Jugendliche berichten von mehr Selbstvertrauen, Motivation und einem besseren Zugang zum Lernen. Unternehmen profitieren ebenfalls: Sie lernen die Jugendlichen intensiv kennen und können sie gezielt fördern.

Vorteile und Wirkungen für Lernende mit Förderbedarf

Das neue Schulform Produktives Lernen entfaltet eine Vielzahl positiver Effekte für Schülerinnen und Schüler mit besonderem Förderbedarf. Durch den engen Praxisbezug und die individuelle Gestaltung der Lernprozesse wird ein schulischer Erfolg auch für diejenigen möglich, die im klassischen Unterrichtssystem Schwierigkeiten haben. Persönliche Stärken und Interessen der Jugendlichen werden gezielt aufgegriffen, was zu höherer Motivation, einem gestärkten Selbstbewusstsein und mehr Durchhaltevermögen führt. Die Jugendlichen lernen in kleinen Gruppen und erhalten intensive Unterstützung durch Lehrkräfte und Mentorinnen bzw. Mentoren – das schafft Vertrauen und Stabilität im schulischen Alltag.

Ein weiterer zentraler Vorteil ist die starke Berufsorientierung: Die Schülerinnen und Schüler sammeln reale Praxiserfahrungen an selbst gewählten Arbeitsplätzen, bewerben sich eigenständig und knüpfen wichtige Kontakte zur Berufswelt. Viele von ihnen finden über diesen Weg direkt einen Ausbildungsplatz, häufig im dualen System. Gleichzeitig entwickeln sie Schlüsselkompetenzen wie Teamfähigkeit, Eigenverantwortung und Kommunikationsstärke – Fähigkeiten, die nicht nur für die Arbeitswelt, sondern auch für das persönliche Leben entscheidend sind. Insgesamt trägt das Produktive Lernen nachhaltig dazu bei, Schulabbrüche zu vermeiden und klare berufliche oder schulische Anschlussperspektiven zu schaffen.

Herausforderungen bei der Umsetzung in der Praxis

Trotz der zahlreichen positiven Effekte, die das Produktive Lernen zweifellos mit sich bringt, lohnt sich auch ein kritischer Blick auf dieses besondere Bildungsangebot. Die Idee, praxisnahes Lernen stärker zu fördern und individuelle Lebens- und Lernlagen zu berücksichtigen, ist pädagogisch sinnvoll und notwendig. Doch gerade diese Individualisierung stellt hohe Anforderungen an das schulische Umfeld und trifft auf ein System, das bereits unter akutem Lehrkräftemangel leidet. Das Produktive Lernen erfordert nicht nur zwei betreuende Lehrkräfte pro Lerngruppe, sondern auch eine zusätzliche Begleitung durch Mentorinnen oder Mentoren im Praxisfeld. Die nötige Qualifizierung übernimmt das Institut für Produktives Lernen in Europa (IPLE), das eine dreijährige, praxisbegleitende Fortbildung mit Seminaren und Briefstudium anbietet. Zwar erhalten Lehrkräfte nach erfolgreichem Abschluss ein entsprechendes Zertifikat, doch angesichts der angespannten Personalsituation und der zusätzlichen zeitlichen Belastung stellt sich die Frage, wie viele Schulen langfristig überhaupt in der Lage sein werden, das Konzept nachhaltig umzusetzen.

Zudem liegt ein zentrales Erfolgskriterium des Produktiven Lernens in der Eigenverantwortung der Jugendlichen. Sie sollen sich selbstständig geeignete Praxisplätze suchen und ihren Lernprozess aktiv mitgestalten. Doch gerade die Zielgruppe – Schülerinnen und Schüler mit Unterstützungsbedarf – bringt nicht immer die dafür nötigen Kompetenzen oder die soziale Stabilität mit. Hier droht die Gefahr, dass Lernrückstände oder mangelnde Motivation nicht durch das neue Konzept kompensiert, sondern eher verschärft werden, wenn die individuelle Begleitung nicht konsequent umgesetzt werden kann.

Ein weiterer kritischer Punkt betrifft die Vergleichbarkeit: Da das Lernen sehr stark individualisiert ist, lassen sich Leistung und Fortschritt nur schwer mit denen von Schülerinnen und Schülern im Regelsystem vergleichen. Das kann zu Unsicherheiten bei Arbeitgebern oder weiterführenden Schulen führen, wenn es um die Bewertung der erworbenen Abschlüsse geht.

Nicht zuletzt ist auch die langfristige Integration des Programms ins Regelsystem eine Herausforderung:

Wird Produktives Lernen als „Sonderweg“ wahrgenommen, besteht das Risiko der Stigmatisierung, sowohl durch Mitschüler*innen als auch durch die Gesellschaft.

Damit das Konzept sein volles Potenzial entfalten kann, braucht es also nicht nur engagierte Lehrkräfte, sondern auch ein starkes Netzwerk aus Schulen, Betrieben, Eltern und Bildungspolitik, das es aktiv trägt und weiterentwickelt.

Zwischen Vision und Realität: Wie Produktives Lernen gelingen kann

Produktives Lernen bietet zweifellos eine wertvolle Chance für Schüler*innen, die im klassischen Schulsystem oft nicht erreicht werden. Die enge Verknüpfung von schulischem Lernen und praktischen Erfahrungen ermöglicht eine realitätsnahe Bildung, die sowohl den Schulabschluss als auch die berufliche Orientierung in den Mittelpunkt stellt. Jugendliche erhalten durch individuelle Betreuung, kleine Gruppen und selbstgewählte Praxisplätze die Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen und ihr Selbstvertrauen zu stärken, zentrale Voraussetzungen für einen erfolgreichen Bildungsweg.

Gleichzeitig ist das Konzept anspruchsvoll in der Umsetzung. Der Fachkräftemangel an Schulen, die aufwendige Qualifizierung über das IPLE sowie die hohen Anforderungen an Organisation und Begleitung stellen viele Schulen vor große Herausforderungen. Auch die Gefahr einer Stigmatisierung als „Sonderweg“ und die schwierige Vergleichbarkeit der Leistungen im Kontext des Regelschulsystems dürfen nicht unterschätzt werden.

Damit das Produktive Lernen langfristig erfolgreich bleibt, braucht es nicht nur engagierte Lehrkräfte und starke Praxispartner, sondern auch politische und strukturelle Unterstützung. Wenn es gelingt, diese Rahmenbedingungen zu sichern, kann das Produktive Lernen ein zukunftsfähiger Bildungsweg sein, für mehr Chancengerechtigkeit, weniger Schulabbrüche und eine bessere berufliche Integration.

Unterrichtsmaterialien & Downloads zu Produktivem Lernen

Tipp: In unserem Shop findest du regelmäßig neue Materialien, auch für individualisierte Lernformate. Du möchtest mit deiner Klasse praxisorientierter arbeiten oder bist selbst an einer Oberschule mit Produktivem Lernen tätig? Dann melde dich gerne bei uns, wir entwickeln passendes Material!

Produktives Lernen verbindet Schule mit echter Lebenspraxis: Zwei Tage in der Woche arbeiten die Jugendlichen in einem Betrieb, die übrigen drei Tage verbringen sie in der Schule. Das Ziel: mehr Motivation, mehr Relevanz, mehr echte Erfahrungen. Dieses besondere Lernkonzept richtet sich an Schüler*innen, die im klassischen Unterricht oft nicht ihr Potenzial zeigen können. In diesem Beitrag erklären wir, wie Produktives Lernen funktioniert, wer davon profitiert und welche Unterrichtsmaterialien für Produktives Lernen Lehrkräfte konkret im Alltag unterstützen.

Das Wichtigste in Kürze

  • Zielgruppe: Schüler*innen, die im Regelschulsystem Schwierigkeiten haben, werden durch Praxisbezug neu motiviert.
  • Struktur: Zwei Tage pro Woche arbeiten die Lernenden in Betrieben, drei Tage sind sie in der Schule, begleitet durch gezielte Reflexion.
  • Vorteil für Lehrkräfte: Kleine Lerngruppen, individuelle Förderung und konkrete Lebensnähe machen Unterricht wirksamer und greifbarer.
  • Herausforderung: Es braucht Zeit für Organisation und intensive Begleitung, aber das Ergebnis lohnt sich: mehr Abschlusschancen, mehr Selbstvertrauen.
  • Passende Materialien helfen, Lernprozesse zu strukturieren und Praxisphasen pädagogisch zu begleiten.

Ein persönlicher Impuls: Lernen zwischen Schule und Praxis

Ich erinnere mich noch gut an eine Busfahrt während einer Wintersportwoche: Wir fuhren gerade zurück von der Piste ins Hotel, als wir ins Gespräch mit einer Schülerin einer berufsbildenden höheren Schule in Österreich kamen, genauer gesagt einer höheren Lehranstalt für Tourismus. Sie erzählte mit Begeisterung von ihrer Ausbildung, die einen ständigen Wechsel zwischen Schule und Praktika vorsieht. 24 Wochen pro Schuljahr verbringen die Lernenden in Betrieben, vom Hotel über Reisebüros bis zur Gastronomie, um Einblicke in die unterschiedlichsten Bereiche der Branche zu gewinnen.

Was uns damals besonders beeindruckte: Diese Ausbildung öffnet viele Türen, ob direkt in den Beruf, in die Selbstständigkeit oder sogar an die Universität. Das war Lernen mit echtem Praxisbezug, deas sich an den Interessen und Zielen der Jugendlichen orientiert. Das war für uns ein faszinierendes Konzept, das uns noch lange im Gedächtnis blieb.

Produktives Lernen bietet Jugendlichen neue Perspektiven

Als ich später vom Konzept Produktives Lernen in Sachsen hörte, fühlte ich mich sofort an dieses Gespräch erinnert. Auch hier steht der Wechsel zwischen schulischem Lernen und praktischer Erfahrung im Mittelpunkt, allerdings mit einem anderen Fokus: Statt beruflicher Spezialisierung geht es darum, Jugendlichen mit Förderbedarf eine realistische Perspektive auf einen Schulabschluss zu eröffnen. Durch gezielte Begleitung, kleine Lerngruppen und die aktive Einbindung in den Berufsalltag erhalten sie die Chance, ihre Stärken zu entdecken und Selbstvertrauen zu entwickeln. Dieser individuelle Weg kann Türen öffnen, nicht nur zu einem der Hauptschule ähnlichem Abschluss, sondern auch zu einem festen Ausbildungsplatz oder einem langfristigen Job. Genau darin liegt die Stärke dieses besonderen Bildungsweges: Er fördert, wo Unterstützung gebraucht wird und schafft neue Möglichkeiten, wo andere Wege versperrt scheinen.

Ursprung, Kritik & aktuelle Verbreitung des Konzepts

Das Konzept ist nicht neu, bereits in der DDR gab es das Fach Produktives Lernen. Rückblickend steht und stand es stets in der Kritik, weil es weder genug Betriebe gab, noch pädagogisch geschultes Personal, welches in der Lage war, die Schüler*innen bei ihrem Lernprozess zu begleiten. Doch wie funktioniert Produktives Lernen genau? Und welche Chancen, aber auch Herausforderungen bringt dieser Weg mit sich?

Individuell. Praxisnah. Erfolgreich.

Mit dem zweijährigen Bildungsangebot Produktives Lernen geht nicht nur der Freistaat Sachsen neue Wege, um Jugendliche auf dem Weg zum Hauptschulabschluss gezielt zu fördern. Die Länder Sachen-Anhalt, Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern, Berlin, Brandenburg und Schleswig Holstein haben ähnliche Angebote. Doch was genau steckt hinter diesem besonderen Konzept und für wen ist es gedacht?

Produktives Lernen: So funktioniert das Konzept

„Produktives Lernen“ ist ein alternatives Schulkonzept für Schüler*innen der 8. und 9. Klassen an sächsischen Oberschulen. Es richtet sich an Jugendliche, die besondere Unterstützung benötigen, um einen dem Hauptschulabschluss gleichgestellten Abschluss zu erreichen. Der Unterricht ist dabei in drei Trisemester gegliedert und kombiniert schulisches Lernen mit praktischen Erfahrungen außerhalb des Klassenzimmers. Im Zentrum steht die Verbindung von:

  • Lernen in der Praxis (z. B. in Betrieben, sozialen oder kulturellen Einrichtungen)
  • fachbezogenem Lernen an der Schule
  • Kommunikationsgruppen, in denen Austausch und Reflexion gefördert werden

Die Jugendlichen wählen ihre Praxisplätze eigenständig aus, auf Grundlage ihrer Interessen und Kompetenzen. Begleitet werden sie von zwei Lehrkräften und einer Mentor*in im Praxisbetrieb. Grundlage für den Lernprozess ist ein individuell abgestimmter Lehrplan (Curriculum).

Ziel des Produktiven Lernens

Das Hauptziel ist ein erfolgreicher Schulabschluss mit klarer beruflicher Perspektive. Das Programm soll die Zahl der Schulabgänge ohne Abschluss senken und den Einstieg in eine Berufsausbildung erleichtern. Gleichzeitig stärkt das „Produktive Lernen“ wichtige Schlüsselkompetenzen wie Selbstständigkeit, Verantwortungsbewusstsein und Ausdauer.

Für wen eignet sich das Angebot?

Zielgruppe sind Jugendliche der Klassenstufen 8 und 9 an Oberschulen, die:

  • besondere Unterstützung beim Lernen benötigen,
  • sich in kleineren Gruppen wohler fühlen,
  • einen praxisnahen Zugang zur Bildung suchen,
  • noch keine konkrete berufliche Perspektive haben.

Aufnahmeverfahren: So kommt man ins Programm

Die Teilnahme am »Produktiven Lernen« ist freiwillig. Das Aufnahmeverfahren umfasst:

  1. Informationsveranstaltung für Jugendliche und Eltern
  2. schriftliche Bewerbung
  3. persönliches Gespräch
  4. sechswöchige Orientierungsphase

Nach dieser Phase entscheidet die aufnehmende Schule gemeinsam mit den Lehrkräften über die endgültige Aufnahme. Bei einer Nichtaufnahme werden gemeinsam alternative Wege gesucht.

Welche Erfolge zeigt das Produktive Lernen?

Zwischen 2009 und 2013 hat ein Forschungsteam um Prof. Thomas Häcker von der Universität Rostock das Produktive Lernen in Sachsen im Rahmen einer externen Evaluation untersucht. Die Ergebnisse wurden 2013 unter dem Titel „Externe Evaluation des Modellprojektes – Produktives Lernen an Mittelschulen in Sachsen“ veröffentlicht. Die Evaluationsergebnisse verdeutlichen, in welchen Bereichen das Produktive Lernen besonders wirksam ist und welche Entwicklungen bei Schülerinnen und Schülern, Lehrkräften sowie Praxispartnern beobachtet werden konnten:

Schulabschluss und Motivation

Die Mehrheit der Schüler*innen im Produktiven Lernen erreicht einen Hauptschulabschluss oder qualifizierten Hauptschulabschluss. Viele streben eine schulische oder berufliche Weiterbildung an. Das PL wirkt also abschlussfördernd und zukunftsorientiert.

Sicht der Lehrkräfte

PL-Lehrkräfte beobachten eine deutliche Entwicklung der Selbstkompetenz (Selbstreflexion, Präsentationsfähigkeit, Eigenverantwortung). Trotz hoher Anforderungen fühlen sie sich weniger überfordert als im Regelschulbetrieb.

Selbstkonzept und Lernerfolg

Das schulische Fähigkeitsselbstkonzept verbessert sich deutlich:

  • höhere Selbsteinschätzung der eigenen Fähigkeiten
  • mehr Zutrauen in die eigene Leistungsfähigkeit
  • größere Lernbereitschaft und Zielstrebigkeit

Gesamtnutzen aus Sicht der Jugendlichen

  • hohe Zufriedenheit mit Klassenklima, Lernmethoden, Unterstützung durch Lehrkräfte
  • Vorteile: Persönlichkeitsentwicklung, Leistungssteigerung, Erreichen des Schulabschlusses
  • Nachteile: Fächerreduktion, geringer Anteil schulischen Lernens, kein Realschulabschluss möglich

Persönliche Entwicklung

Die Jugendlichen berichten von positiven Veränderungen:

  • mehr Selbstbewusstsein, Selbstständigkeit und Durchhaltevermögen
  • stärkere Anstrengungsbereitschaft, Offenheit und Hilfsbereitschaft
  • Verbesserungen in Deutsch, Mathematik, Englisch und Präsentation

Bedeutung der Praxisorte

  • Die Praxisorte erfüllen laut Mentor*innen überwiegend die Anforderungen.
  • Die Zusammenarbeit erfordert Flexibilität und ist zentral für den Erfolg.
  • Arbeitgeber*innen loben berufliche Reife, Zuverlässigkeit, Motivation und Sozialverhalten – sehen aber auch Schwächen bei Auffassungsgabe und Eigeninitiative.

Sozial- und Methodenkompetenz

PL-Schülerinnen und -Schüler zeigen Fortschritte in:

  • Informationsbeschaffung
  • Selbstorganisation
  • Teamarbeit

Ursachen: individuelle Förderung, gutes Klassenklima und enge Begleitung durch PL-Pädagog*innen

Viele Jugendliche berichten von mehr Selbstvertrauen, Motivation und einem besseren Zugang zum Lernen. Unternehmen profitieren ebenfalls: Sie lernen die Jugendlichen intensiv kennen und können sie gezielt fördern.

Vorteile und Wirkungen für Lernende mit Förderbedarf

Das neue Schulform Produktives Lernen entfaltet eine Vielzahl positiver Effekte für Schülerinnen und Schüler mit besonderem Förderbedarf. Durch den engen Praxisbezug und die individuelle Gestaltung der Lernprozesse wird ein schulischer Erfolg auch für diejenigen möglich, die im klassischen Unterrichtssystem Schwierigkeiten haben. Persönliche Stärken und Interessen der Jugendlichen werden gezielt aufgegriffen, was zu höherer Motivation, einem gestärkten Selbstbewusstsein und mehr Durchhaltevermögen führt. Die Jugendlichen lernen in kleinen Gruppen und erhalten intensive Unterstützung durch Lehrkräfte und Mentorinnen bzw. Mentoren – das schafft Vertrauen und Stabilität im schulischen Alltag.

Ein weiterer zentraler Vorteil ist die starke Berufsorientierung: Die Schülerinnen und Schüler sammeln reale Praxiserfahrungen an selbst gewählten Arbeitsplätzen, bewerben sich eigenständig und knüpfen wichtige Kontakte zur Berufswelt. Viele von ihnen finden über diesen Weg direkt einen Ausbildungsplatz, häufig im dualen System. Gleichzeitig entwickeln sie Schlüsselkompetenzen wie Teamfähigkeit, Eigenverantwortung und Kommunikationsstärke – Fähigkeiten, die nicht nur für die Arbeitswelt, sondern auch für das persönliche Leben entscheidend sind. Insgesamt trägt das Produktive Lernen nachhaltig dazu bei, Schulabbrüche zu vermeiden und klare berufliche oder schulische Anschlussperspektiven zu schaffen.

Herausforderungen bei der Umsetzung in der Praxis

Trotz der zahlreichen positiven Effekte, die das Produktive Lernen zweifellos mit sich bringt, lohnt sich auch ein kritischer Blick auf dieses besondere Bildungsangebot. Die Idee, praxisnahes Lernen stärker zu fördern und individuelle Lebens- und Lernlagen zu berücksichtigen, ist pädagogisch sinnvoll und notwendig. Doch gerade diese Individualisierung stellt hohe Anforderungen an das schulische Umfeld und trifft auf ein System, das bereits unter akutem Lehrkräftemangel leidet. Das Produktive Lernen erfordert nicht nur zwei betreuende Lehrkräfte pro Lerngruppe, sondern auch eine zusätzliche Begleitung durch Mentorinnen oder Mentoren im Praxisfeld. Die nötige Qualifizierung übernimmt das Institut für Produktives Lernen in Europa (IPLE), das eine dreijährige, praxisbegleitende Fortbildung mit Seminaren und Briefstudium anbietet. Zwar erhalten Lehrkräfte nach erfolgreichem Abschluss ein entsprechendes Zertifikat, doch angesichts der angespannten Personalsituation und der zusätzlichen zeitlichen Belastung stellt sich die Frage, wie viele Schulen langfristig überhaupt in der Lage sein werden, das Konzept nachhaltig umzusetzen.

Zudem liegt ein zentrales Erfolgskriterium des Produktiven Lernens in der Eigenverantwortung der Jugendlichen. Sie sollen sich selbstständig geeignete Praxisplätze suchen und ihren Lernprozess aktiv mitgestalten. Doch gerade die Zielgruppe – Schülerinnen und Schüler mit Unterstützungsbedarf – bringt nicht immer die dafür nötigen Kompetenzen oder die soziale Stabilität mit. Hier droht die Gefahr, dass Lernrückstände oder mangelnde Motivation nicht durch das neue Konzept kompensiert, sondern eher verschärft werden, wenn die individuelle Begleitung nicht konsequent umgesetzt werden kann.

Ein weiterer kritischer Punkt betrifft die Vergleichbarkeit: Da das Lernen sehr stark individualisiert ist, lassen sich Leistung und Fortschritt nur schwer mit denen von Schülerinnen und Schülern im Regelsystem vergleichen. Das kann zu Unsicherheiten bei Arbeitgebern oder weiterführenden Schulen führen, wenn es um die Bewertung der erworbenen Abschlüsse geht.

Nicht zuletzt ist auch die langfristige Integration des Programms ins Regelsystem eine Herausforderung:

Wird Produktives Lernen als „Sonderweg“ wahrgenommen, besteht das Risiko der Stigmatisierung, sowohl durch Mitschüler*innen als auch durch die Gesellschaft.

Damit das Konzept sein volles Potenzial entfalten kann, braucht es also nicht nur engagierte Lehrkräfte, sondern auch ein starkes Netzwerk aus Schulen, Betrieben, Eltern und Bildungspolitik, das es aktiv trägt und weiterentwickelt.

Zwischen Vision und Realität: Wie Produktives Lernen gelingen kann

Produktives Lernen bietet zweifellos eine wertvolle Chance für Schüler*innen, die im klassischen Schulsystem oft nicht erreicht werden. Die enge Verknüpfung von schulischem Lernen und praktischen Erfahrungen ermöglicht eine realitätsnahe Bildung, die sowohl den Schulabschluss als auch die berufliche Orientierung in den Mittelpunkt stellt. Jugendliche erhalten durch individuelle Betreuung, kleine Gruppen und selbstgewählte Praxisplätze die Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen und ihr Selbstvertrauen zu stärken, zentrale Voraussetzungen für einen erfolgreichen Bildungsweg.

Gleichzeitig ist das Konzept anspruchsvoll in der Umsetzung. Der Fachkräftemangel an Schulen, die aufwendige Qualifizierung über das IPLE sowie die hohen Anforderungen an Organisation und Begleitung stellen viele Schulen vor große Herausforderungen. Auch die Gefahr einer Stigmatisierung als „Sonderweg“ und die schwierige Vergleichbarkeit der Leistungen im Kontext des Regelschulsystems dürfen nicht unterschätzt werden.

Damit das Produktive Lernen langfristig erfolgreich bleibt, braucht es nicht nur engagierte Lehrkräfte und starke Praxispartner, sondern auch politische und strukturelle Unterstützung. Wenn es gelingt, diese Rahmenbedingungen zu sichern, kann das Produktive Lernen ein zukunftsfähiger Bildungsweg sein, für mehr Chancengerechtigkeit, weniger Schulabbrüche und eine bessere berufliche Integration.

Unterrichtsmaterialien & Downloads zu Produktivem Lernen

Tipp: In unserem Shop findest du regelmäßig neue Materialien, auch für individualisierte Lernformate. Du möchtest mit deiner Klasse praxisorientierter arbeiten oder bist selbst an einer Oberschule mit Produktivem Lernen tätig? Dann melde dich gerne bei uns, wir entwickeln passendes Material!